Interview mit Prof. Dr. Nils Urbach, Universität Bayreuth

Das Potenzial der Blockchain: "Kurzfristig überschätzt, langfristig unterschätzt"

Prof. Dr. Nils Urbach ist Professor für Wirtschaftsinformatik und strategisches IT-Management an der Universität Bayreuth. Zudem ist er stellvertretender wissenschaftlicher Leiter des Kernkompetenzzentrums Finanz- und Informationsmanagement sowie der Projektgruppe Wirtschaftsinformatik am Fraunhofer-Institut für angewandte Informationstechnik. Darüber hinaus leitet er das Fraunhofer Blockchain Lab, das er 2016 gegründet hat.

Im Interview mit Horváth erläutert Prof. Dr. Urbach, welche Umsetzungen er im Bereich Blockchain bislang begleitet hat und welche Potenziale die Technologie für die Finanzindustrie birgt. Zudem spricht er über die Erfolgskriterien sowie Herausforderungen der Blockchain und gibt einen interessanten Ausblick in die Zukunft.

HERR PROF. DR. URBACH, WIE SIND SIE MIT DEM THEMA BLOCKCHAIN BZW. DISTRIBUTED LEDGER TECHNOLOGY IN BERÜHRUNG GEKOMMEN?

URBACH / Vor etwa fünf Jahren habe ich begonnen, mich zunächst aus privatem Interesse mit Blockchain zu beschäftigen. Ich habe dabei schnell erkannt, dass die Technologie auch neben der Anwendung als Kryptowährung sehr großes Potenzial bietet, so dass ich das Thema kurze Zeit später mit meiner Forschungsgruppe aufgegriffen habe. Erst einige Monate später kam der Blockchain-Boom dann ins Laufen. Vor dem Hintergrund, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt schon sehr intensiv mit der Technologie und ihren Anwendungsmöglichkeiten beschäftigt hatten, waren wir bereits frühzeitig ziemlich gut aufgestellt, als die ersten Unternehmensanfragen zu diesem Thema bei uns eingingen. Entsprechend schnell haben wir dann die ersten Ideation-Workshops mit Unternehmen durchgeführt. Das war auch der Startschuss für uns, unsere Blockchain-Aktivitäten auszuweiten und in unserem Fraunhofer Blockchain Lab zu bündeln, mit dem wir bereits seit einigen Jahren sehr erfolgreich in Forschung und Praxis agieren.

ALS CHALLENGE: WAS BEDEUTET BLOCKCHAIN FÜR SIE IN EINEM SATZ?

URBACH / Für mich ist Blockchain eine verteilte, dezentrale Datenstruktur, die Transaktionen transparent, chronologisch und unveränderbar in einem Netzwerk speichert – und damit zunächst erstmal nur eine innovative Basisinfrastrukturtechnologie.

UND WELCHE MEINUNG NEHMEN SIE AM MARKT ZU DIESEM THEMA WAHR?

URBACH / Auf der einen Seite gibt es die absoluten Blockchain-Enthusiasten, die davon ausgehen, dass die Technologie so innovativ und disruptiv ist, dass sie alles verändern wird und wir deshalb alles nur noch mit Blockchain machen sollten. Auf der anderen Seite gibt es die totalen Pessimisten, die Blockchain für eine der größten gegenwärtigen Technologieblasen halten und gar nicht verstehen können, warum sich so viele Menschen damit beschäftigen. Und zwischen diesen beiden Extrempositionen gibt es natürlich die verschiedensten Abstufungen. Aus meiner Sicht gibt es also nicht die eine dominante Meinung oder Einschätzung. Generell habe ich das Gefühl, dass das Potenzial von Blockchain zwar kurzfristig überschätzt, aber langfristig unterschätzt wird.

HABEN SIE SCHON KONKRETE UMSETZUNGSBEISPIELE MITBEGLEITET?

URBACH / Ja, vor allem im Rahmen angewandter Forschungsprojekte. In der frühen Phase hatten viele Aktivitäten noch einen Proof-of-Concept-Charakter. Da ging es hauptsächlich darum, die Technologie auszuprobieren, erste Erfahrungen zu sammeln und daraus zu lernen. Beispielsweise haben wir schon sehr früh zusammen mit der Nord/LB einen PoC für die Abwicklung von Dokumentenakkreditiven in der internationalen Handelsfinanzierung umgesetzt. Mittlerweile arbeiten wir auch an größeren Umsetzungsprojekten mit. So unterstützen wir das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aktuell bei der Entwicklung einer Blockchain-Lösung zur Unterstützung der behördenübergreifenden Kommunikation und Zusammenarbeit im Asylkontext.

EINE NACHFRAGE: IST DIE BLOCKCHAIN-LÖSUNG BEI DER NORD/LB ANSCHLIEßEND LIVE GEGANGEN?

URBACH / Nein, die Lösung ist nicht live gegangen. Das war aber auch nie Ziel des Projekts. Es ging vielmehr darum, anhand eines realen Anwendungsfalls Erfahrungen mit der Blockchain-Technologie zu sammeln und daraus zu lernen. Zum einen konnte das Thema im Gesamtunternehmen – auch auf Vorstandsebene – bekannt gemacht werden. Zum anderen ließen sich Learnings hinsichtlich der eigenen Aufstellung zum Thema Blockchain ableiten. In der Zwischenzeit gibt es aber zahlreiche Initiativen und Konsortien, die genau diesen Anwendungsfall mit Blockchain adressieren.

WENN WIR UNS BLOCKCHAIN-ANWENDUNGEN IN DER FINANZINDUSTRIE ANSCHAUEN, WAS SIND DORT DIE GRÖßTEN POTENZIALE?

URBACH / Vor dem Hintergrund, dass die Blockchain-Technologie mit der Kryptowährung Bitcoin groß geworden ist, ist es nicht überraschend, dass sich die Finanzdienstleistungsbranche vergleichsweise früh intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Hier sehe ich das Potenzial vor allem im internationalen Zahlungsverkehr, bei der Vereinfachung von Clearing-Prozessen sowie in Kryptowährungen und Initial Coin Offerings. Aus meiner Sicht liegt in der Finanzindustrie aber nicht notwendigerweise ein größeres Potenzial von Blockchain-Anwendungen als in anderen Branchen. In Bereichen wie Energie, Mobilität und Logistik ist das Potenzial mindestens genauso groß – möglicherweise sogar größer.

GIBT ES EINEN ERFOLGREICHEN, PRODUKTIVEN USE CASE?

URBACH / Aus meiner Sicht gibt es immer noch nicht den einen Top-Use-Case, der eine große Anzahl Nutzer adressiert. Natürlich sehen wir im Bereich der Kryptowährungen Produktivsysteme, die gut und stabil funktionieren. Gleichzeitig gibt es aber auch hier immer noch Herausforderungen, beispielsweise in der Skalierbarkeit. Nichtsdestotrotz sehen wir zunehmend in der Breite, über die Kryptowährungen hinaus, viele vielversprechende Initiativen, die sich auf dem Entwicklungspfad hin zu Produktivsystemen befinden. Der bereits angesprochene Anwendungsfall im Bereich des Asylprozessmanagements von Geflüchteten beim BAMF hat gute Chancen, künftig in einem Produktivsystem zu münden.

WAS WÄREN ERFOLGSKRITERIEN, DAMIT WIR ZUKÜNFTIG MEHR PRODUKTIVE USE CASES SEHEN?

URBACH / Zunächst sind die technischen Aspekte wie zum Beispiel die Skalierbarkeit zu nennen. Hier sehen wir, dass sich die bereits etablierten Blockchain-Implementierungen kontinuierlich weiterentwickeln und immer besser werden. Gleichzeitig kommen auch neue, bessere Lösungen auf den Markt. Einige davon beziehen sich auf den verwendeten Konsensmechanismus. Dabei geht es oftmals darum, alternative Ansätze für den vergleichsweise langsamen und nicht selten energieintensiven Proof-of-Work-Algorithmus zu schaffen. Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die notwendige Offenheit auf Anwenderseite. Hier kommt es darauf an, das Management zu überzeugen, das möglicherweise noch nicht volles Vertrauen in die Blockchain-Technologie hat. Weitere Fragestellungen, die es zu klären gilt, liegen im Bereich der Governance. Auch „neutrale“ Blockchain-Lösungen müssen von irgendjemandem aufgesetzt, kontinuierlich weiterentwickelt und verwaltet werden. Es gibt bisher wenig Best Practices, von denen man mit Gewissheit sagen kann, dass sie der beste Weg sind. Zudem sind immer noch rechtliche Fragestellungen zu klären, gerade in Bezug auf die Speicherung sensibler Daten.

WAS DIE WEITERENTWICKLUNG DER BLOCKCHAIN ANGEHT, WAS SIND AUS IHRER SICHT DIE GRÖßTEN HÜRDEN, DIE ÜBERWUNDEN WERDEN MÜSSEN?

URBACH / Auf technischer Seite ist es meines Erachtens die Skalierbarkeit. In gewissen Bereichen sind wir damit in den letzten Jahren schon weitergekommen. Wenn es aber darum geht, irgendwelche Transaktionen im Millisekunden-Bereich zu verarbeiten, sind wir noch nicht so weit. Außerdem besteht generell die Frage nach der technologischen Reife. Große Anbieter sind bereits seit einiger Zeit dran, verlässliche Systeme für das Corporate-Umfeld zu schaffen. Organisatorisch ist es dennoch erforderlich, dass die Unternehmen Inhouse-Know-how im Bereich Blockchain aufbauen. Denn selbst wenn die großen Anbieter Blockchain-as-a-Service anbieten, benötige ich als Unternehmen auch eigenes Personal, welches sich sowohl fachlich als auch technisch in der Tiefe damit auskennt. Am Ende des Tages wird Blockchain dann vermutlich aber auch nicht mehr als eine Infrastrukturtechnologie neben vielen anderen sein.

UND WIE SIEHT ES ABGESEHEN VON DEN TECHNISCHEN ASPEKTEN AUS?

URBACH / Hier sehe ich vor allem die Governance-Fragestellungen. Wie setzte ich die Blockchain auf? Wer ist dafür zuständig? Gibt es so etwas wie eine Userverwaltung? Wie werden technische Weiterentwicklungen organisiert? Auch Fragen nach der Refinanzierung von Blockchain-basierten Plattformen stellen sich. Diese Fragen sind meines Erachtens besonders interessant, wenn wir von offenen, neutralen Plattformen sprechen. Beispielsweis machen diese im Zweifel keine Werbung und bietet keinen Support. Wie soll der Endkunde aber von der Plattform erfahren? Und an wen soll er sich wenden, wenn etwas mal nicht nach seiner Zufriedenheit läuft? Daneben gibt es noch die rechtlichen Fragestellungen. Hier passiert bereits sehr viel, aber es gibt natürlich nach wie vor Fragstellungen, die gelöst werden müssen.

HABEN SIE DA DEN EINDRUCK, DASS DER RECHTLICHE RAHMEN MIT DER GESCHWINDIGKEIT DER TECHNOLOGISCHEN ENTWICKLUNG SCHRITT HÄLT?

URBACH / Ich bin der Meinung, dass man auf dem richtigen Weg ist. In vielen unserer Projekte sind Juristen beteiligt, die rechtliche Fragestellungen im Blockchain-Kontext bearbeiten. Mein Gefühl ist dabei durchaus, dass die Kollegen am Puls der Zeit arbeiten. Bei innovativen Technologien ist es normal, dass die rechtlichen Fragestellungen nicht als allererstes geklärt werden können. Vielmehr ist es so, dass die technologische Entwicklung voranschreitet und dann natürlich möglichst zeitnah, aber trotzdem nachgelagert, sichergestellt werden muss, dass der rechtliche Rahmen entweder passt oder angepasst wird.

WO SEHEN SIE DIE BLOCKCHAIN-TECHNOLOGIE IN ZWEI, FÜNF UND ZEHN JAHREN?

URBACH / Nachdem es in den vergangenen zwölf Monaten etwas ruhiger um das Thema Kryptowährungen geworden ist, erleben wir aktuell eine zweite Welle der Begeisterung. Auslöser dafür war meines Erachtens vor allem die Ankündigung der Facebook-Währung Libra. Dass sich der vielleicht etwas übertriebene Hype um Blockchain in der Zwischenzeit etwas abgekühlt hat, ist aus meiner Sicht eher positiv zu bewerten. Die Entwicklung folgt auch hier im Grunde wieder dem typischen Hype-Cycle-Modell. Nach dem Hype folgt ein wenig die Ernüchterung. Gleichzeitig wird nun aber auch mit einem etwas realistischeren Blick und der nötigen Seriosität auf das Thema geschaut. Perspektivisch wird sich Blockchain, wie bereits angesprochen, zu einer alternativen Infrastrukturtechnologie neben anderen etablierten.

VIELEN DANK FÜR DAS AUFSCHLUSSREICHE INTERVIEW, HERR PROF. DR. URBACH!

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