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IFRS 17 – geniales Steuerungskonzept mit Achillesferse

Eine fundierte Bewertung des neuen Bilanzierungsstandards für interne Zwecke – mit konkreten Handlungsempfehlungen für die Übergangszeit

Ab wann erzielt ein Versicherungsunternehmen Gewinne, und wer trägt dazu bei? Mit den neuen Bilanzierungsregeln nach International Financial Reporting Standard 17, kurz IFRS 17, sollten diese Fragen branchenübergreifend eigentlich bereits seit Beginn 2021 mit einem neuen Zahlenwerk beantwortet werden. Die verpflichtende Anwendung hat sich, nach aktuellem Stand, auf Anfang 2023 verschoben. Diese Entscheidung sollten Versicherer auf keinen Fall zum Anlass nehmen, die Umstellung großzügig nach hinten zu verschieben. Zum einen gilt es, auch für 2023 bereits frühzeitig die Weichen zu stellen. Zum anderen kann der Standard, der primär für eine bessere externe Beurteilung entwickelt wurde, auch Vorteile für die interne Steuerung bringen. Welche das sind, und ob sich eine frühzeitige Umstellung lohnt, zeigen wir in diesem Beitrag.

Was eine gute Steuerungskennzahl ausmacht

Einer Entscheidung für oder wider IFRS 17 sollte die Überlegung vorausgehen, was die grundsätzlichen Anforderungen an die Steuerung beziehungsweise zentrale Steuerungskennzahlen für interne Zwecke sind. Zuallererst sollte eine Steuerungskennzahl inhaltlich das Unternehmensziel reflektieren sowie mögliche weitere relevante Knappheitsfaktoren, etwa Risikokapital, berücksichtigen. Sie sollte ein „best estimate“ sein und die "betriebswirtschaftliche Wahrheit" darstellen. Weiter sollte die Kennzahl unbedingt manipulationssicher sein, nachvollziehbar in der Erstellung und vergleichbar. Ebenfalls wichtig: Sie sollte im Unternehmen eine geeignete Anreizwirkung entfachen und zur Kommunikation möglichst einfach nutzbar sein.

Die Zahl sollte auch in möglichst vielen Steuerungsprozessen konsistent einsetzbar sein: in der Strategiebewertung, der Unternehmensbewertung sowie den Schritten Planung, Forecast, Hochrechnung, dem Abschluss und dem Reporting. – optimalerweise auch in der Projektportfoliobewertung und der Zielvereinbarung. Dazu müssen die Zahlen in hinreichender Granularität sowie im Ist und im Plan vorliegen.

Was IFRS 17 beinhaltet

IFRS 17 umfasst drei Bewertungsverfahren: das grundlegende ist das General Measurement Model (GMM) oder auch Building Block Approach (BBA). Eine „nahe Verwandte“ ist der Variable Fee Approach (VFA) für erfolgsbeteiligtes Geschäft. Und es gibt den Premium Allocation Approach (PAA), den Vereinfachungsfall für sehr kurzfristiges, maximal einjähriges Geschäft.

General Measurement Model (GMM) oder Building Block Approach (BBA)

Der GMM/BBA-Ansatz ist eine Bewertung, welche auf (diskontierten) best-estimate Cash-Flows aufbaut. Der Gegenwartswert der Fulfillment Cashflows (FCF), also im Ergebnis der erwartete Gewinn, wird dabei nicht sofort erfolgswirksam verbucht, sondern nach Abzug einer Risikomarge (Risk Adjustment, kurz RA) als Contractual Service Margin (CSM) in die Bilanz eingestellt und über die Laufzeit des Vertrages erfolgswirksam aufgelöst. Der Ansatz berücksichtigt Portefeuilles (Group of Contracts) und Zeichnungsjahre (Jahreskohorten). Insgesamt ein spannendes Konzept, welches das Informationskonzept in der Bilanz (ein Vertrag ist ein Asset aus zukünftigen Ein- und Auszahlungen) mit dem Schadendeckungsprinzip (Prämie wird verdient durch Schutz über eine Periode) in der GuV verbindet.

Variable Fee Approach (VFA)

Der VFA funktioniert ähnlich, berücksichtigt aber beispielsweise bei fondsgebundenen Lebensversicherungen die Wertentwicklung der underlying Assets explizit in den FCF.  Der Ansatz dominiert das Lebengeschäft.

Premium Allocation Approach (PAA)

Der PAA ist eine Vereinfachung für den Fall, dass der Deckungszeitraum maximal ein Jahr beträgt:  in diesem Fall erübrigt sich eine Cash Flow Betrachtung der Prämien und Rückstellungen für zukünftige Deckungen (Liability for remaining Coverage, LRC).  

Wie gut IFRS 17 die Anforderungen erfüllt

Legen wir das skizzierte IFRS 17 den eingangs formulierten Anforderungen gegenüber, so zeigt sich:

Zielorientierung: ist gegeben, sowohl nach dem traditionellen Schadendeckungsprinzip als auch nach dem ökonomischen Informationskonzept.

Betriebswirtschaftliche Wahrheit: ist sowohl beim GMM/BBA als auch beim VFA gegeben. Problematisch ist dieser Faktor beim PAA, der eigentlich nur für wirklich kurzfristiges Geschäft wie eine Auslandskrankenversicherung gedacht ist. Der PAA wird allerdings aktuell für die Mehrheit aller Schaden- und Unfallsegmente (Property and Casualty Insurance, P&C) zugrunde gelegt, da die Verträge eine jährliche Anpassung der Prämien beziehungsweise eine Kündigung erlauben. Somit wird beispielsweise in der Kfz-Versicherung jede Jahresscheibe als eigener Vertrag gehandhabt. Mit betriebswirtschaftlicher Wahrheit hat das nichts zu tun, insbesondere, wenn man bedenkt, dass der zugehörige aktivischer Rechnungsabgrenzungsposten (DAC) dann über fünf Jahre abgeschrieben wird.

Manipulationssicher und nachvollziehbar und vergleichbar? Abstrahiert man von unterschiedlichen Interpretationen des Standards, die nie auszuschließen sind, so sind die Informationen erstaunlich manipulationssicher und nachvollziehbar. Durch die enge Zusammenarbeit mit den Aktuaren und den pattern-based Approach bestehen wenig Gestaltungsmöglichkeiten.

Allerdings ist die Vergleichbarkeit zwischen den Segmenten Leben und Kranken (Life & Health, L&H und) sowie P&C nach wie vor nicht gegeben: für L&H dominiert der VFA und dabei das Informationskonzept und in P&C der PAA und damit das Schadendeckungsprinzip. Die ursprüngliche Hoffnung, dass ein auf abgezinsten Zahlungsstrom (Discounted Cash-Flow, DCF) basierender Rechnungslegungsstandard ("non-life embedded value") beide Welten unter einem gemeinsamen Messkonzept zusammenführen könnte, konnte nicht erfüllt werden.

Anreizwirkung: Speziell für das Performance Measurement ist die Zugrundelegung von Jahreskohorten und damit die Fokussierung auf das Underwriting des Berichtsjahres positiv zu bewerten. Beim PAA gilt dies jedoch ebenfalls nur mit Einschränkungen. Während dies bei den Erneuerungen der Rückversicherungsverträge noch zu akzeptieren ist, ist die automatische Verlängerung eines KFZ-Vertrages verbunden mit der Mitteilung einer angepassten Prämie kaum als Underwriting- oder Vertriebsperformance zu bewerten.

Kommunizierbarkeit: auch wenn sich Teile der Branche mit dem Standard noch schwertun, sind die Ergebnisse für P&C und L&H – nach einer gewissen Eingewöhnungszeit – aus unserer Sicht getrennt gut kommunizierbar. So unähnlich sind sich die versicherungstechnischen Ergebnisse nach IFRS 4 und Net Insurance Result des IFRS 17 außerdem gar nicht, und auch der „CSM at inception“ bei Leben ähnelt sehr dem bekannten Profit of New Business.

Konsistenz über alle Prozesse: Da der IFRS 17 Ansatz – mit Ausnahme von PAA – grundsätzlich auf dem DCF-Verfahren beruht, ist er auch sehr gut für die Strategiebewertung und die Unternehmensbewertung nutzbar. Planung, Forecast, Hochrechnung, Abschluss und Reporting funktionieren auch mit dem PAA problemlos. Anders sieht es beim Thema Incentivierung aus, für das der PAA sich weniger eignet, da ein Messen von Underwritingperformance nur unter den oben genannten Einschränkungen möglich ist, falls Zeichnungsjahre dann auch tatsächlich ausgewiesen werden. Teile der Branche wollen dies als Anfalljahr interpretiert wissen.

Was wären Alternativen?

Der extensive Einsatz des PAA ist Realität, so dass Controller kaum um alternative Konzepte herumkommen. Dazu kommen insbesondere der EVATM, der EVM und gegebenenfalls Solvency II in Betracht.

Der EVATM Ansatz ist ein auf traditionellen Standards basierendes, wertorientiertes Übergewinnkonzept. Eine Übertragung auf IFRS 17 ist grundsätzlich möglich, wobei die Messung ausschließlich nach dem Schadendeckungsprinzip funktioniert, was eine unschöne Einschränkung ist.

Der EVM Ansatz ist eine Weiterentwicklung des DCF Ansatzes. Der EVM Ansatz bildet den ökonomischen Wert eines Versicherungsunternehmens präzise ab und realisiert im Zeichnungszeitpunkt den gesamten Gegenwartswert zukünftiger Gewinne aus dem Neugeschäft. Abstrahiert man vom PAA, ist eine Überleitung dieses Ansatzes in die IFRS-17-Welt problemlos möglich beziehungsweise sind die Kennzahlen nach EVM ohne Schwierigkeit aus dem Zahlenwerk von IFRS 17 ableitbar.

Die Gewinnermittlung bei Solvency II erfolgt ausschließlich bilanzorientiert über die Marktwertbilanz, sodass eine Steuerung hier nur nach dem Informationsprinzip möglich wäre, was eine Einschränkung darstellt. Zudem besteht bei „SII“ keine Notwendigkeit, die Zahlen im Ist in buchhalterischer Logik zu verarbeiten. Dies sind Modellierungen, die die Manipulationssicherheit aufweichen. Weiter dürften Modellanpassungen zu zeitlichen Inkonsistenzen führen, die schwer erklärbar sein könnten.

Ergebnis: Ohne PAA ein perfektes Steuerungsset

Die Tatsache, dass verschiedene Versicherungsunternehmen eigens für die interne Steuerung Konzepte wie den EVM einführen, zeigt deutlich, dass IFRS 17 weiterhin Optimierungspotenzial hat. IFRS 17 ist im General Measurement Model zwar ein geniales Konzept, führt bei extensiver Nutzung des PAA jedoch leider zu Inkonsistenzen, Einschränkungen und Problemen bei der Vergleichbarkeit. Bei einem Verzicht auf PAA würde IFRS 17 ein nahezu perfektes Set an Steuerungsinformationen bieten: Es ist in Plan, Ist und Forecast verfügbar, kann für P&C und L&H eingesetzt werden und integriert Schadendeckungsprinzip und Informationsprinzip. Zudem zwingt es zumindest die Controller, Aktuare und Accountants in ein abgestimmtes Konzept und bindet auch die Risikomanager (Risk Adjustment) mit ein.

Handlungsempfehlungen: Wie sich Versicherer heute aufstellen sollten

Was also tun? Bei einer extensiven Nutzung des PAA bieten sich grundsätzlich traditionelle, an der Schadentragung orientierte wertorientierte Konzepte wie der EVATM an. Diese passen jedoch kaum für die Sparte Leben. Wenn das Unternehmen den PAA nicht nutzt und die Versicherungsdauer (Coverage Periods) realistisch setzt, ist das Zahlenwerk nach IFRS 17 eine sehr gut geeignete Basis für die Steuerung. Wie oben skizziert, lassen sich GMM/BBA sowie VFA gut in das EVM-Konzept überführen. Wenn das Unternehmen den PAA umfassend nutzt, könnte der Controller für interne Zwecke GMM/BBA anfragen – oder er implementiert einen rein internen Rechnungslegungsstandard wie EVM für die Steuerung, was allerdings aufwendiger sein dürfte.

Wenn ein Unternehmen IFRS 17 bereits implementiert hat, geht die Empfehlung dahin, sich GMM/BBA-fähig zu machen. Einige der führenden Rückversicherer denken schon in diese Richtung. Zwar könnte der branchenweite Umstieg noch einige Jahre dauern – jedoch langfristig die Lösung für die Zukunft sein.

Wenn IFRS 17 noch nicht implementiert ist, ist die Empfehlung komplexer. Wir sehen als zentrale Frage an, ob auf Basis der bestehen den Rechnungslegungsstandards, zum Beispiel HGB, eine Steuerung gut möglich ist. Je heterogener die Portefeuilles sind und je längerfristiger die Verträge ausgerichtet sind (Coverage Periods), desto mehr könnte es Sinn machen, für interne Zwecke ein Rechenwerk nach IFRS 17 zu nutzen – mit den Vorteilen einer besseren Steuerung und Vergleichbarkeit mit den Peers.

Allerdings sind im letzteren Fall die Investitionen zu bedenken, die für ein neues versicherungstechnisches Nebenbuch erforderlich sind. Im Gegenzug wird das Unternehmen dafür von einer hervorragenden Transparenz und Steuerungsfähigkeit profitieren sowie zuzüglich einer Konvergenz der Funktionsbereiche und einer verbesserten Arbeitsteilung. Schlussendlich sollte für die Entscheidung eine individuelle Analyse von Chancen und Risiken beziehungsweise Kosten und Nutzen erstellt werden.

Dr. Mägebier, A. / Wiegard, M. / Dr. Briem, C.