Supply Chain Risk Management bei ZF Friedrichshafen

Interview mit Dr. Michael Karrer, Leiter Lieferantenmanagement ZF-Konzern

WARUM IST DAS SUPPLY CHAIN RISIKO MANAGEMENT (SCRM) FÜR ZF VON BESONDERER BEDEUTUNG?

KARRER ZF ist einer der größten Automotive-Tier-1-Supplier weltweit mit mittlerweile über 20 Milliarden Euro Einkaufsvolumen. Bis vor einigen Jahren war unser SCRM hauptsächlich auf finanzielle Risiken fokussiert. In der Zwischenzeit kamen politische, ökonomische und Performance-Risiken hinzu. Es gibt auch höhere Anforderungen seitens der Kunden. Diese wollen hinsichtlich der Risiken früher informiert werden. Einer der Hauptgründe für die hohe Erwartungshaltung unserer Kunden ist die Tier-1-Rolle, aber auch die Größe von ZF spielt eine Rolle. Zusätzlich gibt es eine stärkere Sensibilität und Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, insbesondere durch das Thema Nachhaltigkeit. Kurz: Die Erwartung ist, dass der Tier-1-Lieferant für die gesamte Lieferkette geradesteht. ZF hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, eine risikoarme, leistungsfähige Supply Chain aufzubauen.

WO SEHEN SIE DIE GRÖßTEN RISIKEN BEI DER VERSORGUNG IHRER WERKE? WIE HABEN SICH DIESE VERÄNDERT?

KARRER Durch die zunehmende Globalisierung des Liefernetzwerks sind Volatilität und Komplexität stärker geworden. Die Dynamik wird durch den Technologiewandel zur Hybrid- und Elektromobilität und auch durch neue Player auf der Kundenseite verstärkt. Der Handelsstreit zwischen den USA und China sowie der Brexit tragen ebenfalls zu Unsicherheit bei. Davon abgesehen hat sich der Umfang an versorgungsrelevanten Risiken erweitert: Neben den klassischen Performancekriterien wie Liefertreue, Qualität und finanzielle Stabilität der Lieferanten sind heute auch Anforderungen an die gesellschaftliche Verantwortung und Nachhaltigkeit von großer Bedeutung.

WELCHE ZIELE VERFOLGT ZF MIT SEINEM SCRM-ANSATZ UND MIT WELCHEN MAßNAHMEN PLANEN SIE, DIESE ZU ERREICHEN?

KARRER Das oberste Ziel besteht in der Aufrechterhaltung einer möglichst gut funktionierenden Lieferversorgung. Die Stabilität der Lieferkette muss weiter gestärkt werden. Nicht jede Störung kann dabei einzeln gemanagt werden. Daher muss das Netzwerk so ausgelegt sein, dass sich mögliche Probleme auch selbstständig so regeln können, dass es zu keinen Schäden kommt. ZF verfolgt hier unter anderem die Strategie „From Region to Region“, um die Supply Chains zu kürzen. So will ZF beispielsweise logistische Risiken minimieren oder auch Zollstreitigkeiten vermeiden. Früher galt es eher, das „Fire Fighting“, also reaktive Problemlösungen, zu optimieren, heute geht es darum, die Strukturen von Beginn an widerstandsfähig zu machen. Dies ist bereits im Sourcing zu berücksichtigen. Außerdem hat sich das Bestandmanagement geändert und wird weniger rein kostenorientiert optimiert. Wir betreiben ein gezieltes Bestandsmanagement mit von Lieferanten versorgten Konsignationslagern in bestimmten Regionen, um Risiken bei der Versorgung zu minimieren.

WO SEHEN SIE DIE GRÖßTEN HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE WEITERENTWICKLUNG DES SCRM SEIT DURCHFÜHRUNG DES PROJEKTES IN 2017?

KARRER Eine Herausforderung besteht in der zeitnahen Identifikation von Versorgungsrisiken. Hier arbeiten wir mit spezialisierten Informationsdienstleistern. Die größere Herausforderung ist es jedoch, nach dem Erkennen des Risikos zeitnah die richtigen Entscheidungen zu treffen und entsprechend zu handeln. Man könnte zwar Normstrategien hinterlegen, aber im Prinzip sind alle Fälle sehr unterschiedlich gelagert. Daher sind wir bezüglich der Automatisierbarkeit von Risikoentscheidungen eher skeptisch. Ein Prozess, um schnell zu Entscheidungen zu kommen, ist zielführender. Ein Hemmnis für die Verantwortlichen besteht darin, dass Entscheidungen immer in einer Situation der Unsicherheit getroffen werden müssen: Aktive Gegenmaßnahmen zur Risikominimierung kosten Geld, und wenn es dem Lieferanten aus eigener Kraft gelingt, eine kritische Versorgungssituation zu beheben, wäre dieses Geld schon ausgegeben. Hier gilt es Risiken und Aufwände gegeneinander abzuwägen.

IN WELCHER GRÖßENORDNUNG KONNTEN SIE SEIT IMPLEMENTIERUNG DES SCRM DROHENDE SCHÄDEN ODER LIEFERSTÖRUNGEN ABWENDEN?

KARRER Durch aktives Eskalationsmanagement können wir heute auf Performancerisiken rasch reagieren und konnten so den Lösungsprozess um über die Hälfte beschleunigen. Dies spart massiv Kosten – intern wie extern. Im Bereich präventives Risikomanagement steckt noch mehr Potenzial, da wir durch ausgewogene Sourcing-Entscheidungen die Risikoexposition unserer Supply Chain sehr früh reduzieren können.

WELCHE ERFOLGSFAKTOREN SEHEN SIE FÜR EIN FUNKTIONIERENDES SCRM?

KARRER Die Durchsetzungskraft und die Geschwindigkeit bei der Umsetzung von geeigneten Maßnahmen sind entscheidend. Der Verantwortliche für das SCRM muss einen direkten Zugang zur Geschäftsführung oder dem Vorstand haben. Risk Management muss in der Organisationsstruktur zentral platziert sein, damit schnell schlagkräftige Entscheidungen getroffen werden. Auch der Einkauf muss den gesamten Themenkomplex SCRM mit im Blick behalten, das heißt Preisziele und Risikokosten im Gleichgewicht halten. ZF hat vor drei Jahren einen effektiven Prozess für den Schadensfall in der Supply Chain eingeführt. Bei ZF leiten in der höchsten Eskalationsstufe die Warengruppenleiter des Einkaufs auch die entsprechende Supply-Chain-Task-Force. Zunächst muss das Werk jedoch selbst versuchen, das Problem zu lösen. Dies schafft ein Verantwortungsgefühl schon bei der Lieferantenauswahl und einen ganzheitlichen Blick auf das Sourcing.

WIE HABEN SICH DIE VERGABEVERFAHREN SOWOHL VON FAHRZEUGHERSTELLER-SEITE ZU SEINEN TIER-1-LIEFERANTEN ALS AUCH VON ZF ZU SEINEN LIEFERANTEN IM HINBLICK AUF RISK MANAGEMENT VERÄNDERT?

KARRER Die Risiken sind stärker in den Fokus gerückt, weil einige Hersteller und auch große Tier-1 in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht haben. Auch in der IATF 16949 (Richtlinie zum globalen Qualitätsstandard in der Automobilindustrie) wird das Thema stärker berücksichtigt und dadurch bei Audits entsprechend höher gewichtet. Zusätzlich gibt es häufiger Anfragen von Fahrzeugherstellern zu Einzelfällen – zum Beispiel bei Naturkatastrophen –, ob und inwiefern die ZF-Lieferkette betroffen ist. Hier haben sich die Ansprüche an Transparenz in der Lieferkette stark erhöht.

WELCHE NÄCHSTEN SCHRITTE PLANT ZF ZUM WEITEREN ROLLOUT DES ENTWICKELTEN SCRM-ANSATZES?

KARRER ZF arbeitet insbesondere verstärkt an den Themen Entscheidungsgeschwindigkeit und Effizienz, ebenso an der Erweiterung um die Nachhaltigkeit der Supply Chain und präventive Ansätze. Es wird vermutlich dazu kommen, künftig durch weniger Lieferanten regional versorgt zu werden und damit auch die Komplexität der Supply Chain zu verringern und Risiken zu reduzieren.

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