Automation Insights

Dem Wettbewerb einen Schritt voraus: Wandlungsfähige Fabriken als Chance für die Automatisierungsindustrie

Für produzierende Unternehmen ist es zunehmend schwierig, im volatilen Marktumfeld flexibel auf Veränderungen zu reagieren und handlungsfähig zu bleiben. Technische Lösungen können sie hierbei jedoch grundlegend unterstützen. Die Automatisierungsindustrie sollte ihr Produktportfolio daher auf wandlungsbefähigende Eigenschaften prüfen, um so frühzeitig eine führende Rolle am Markt einzunehmen.

„Nichts ist so beständig wie der Wandel“ – das stellte der Philosoph Heraklit von Ephesus bereits etwa 500 v. Chr. fest. Heutzutage gilt dies mehr denn je. Steigender Wettbewerbs- und Kostendruck, kürzere Produktlebenszyklen sowie eine hohe Innovationsdynamik machen es für Unternehmen unabdingbar, wandlungsfähig zu sein. Wandlungsfähigkeit vereint dabei Flexibilität und Reaktionsfähigkeit – und bedeutet im Bedarfsfall organisatorische, technische und logistische Anpassungen in kurzer Zeit sowie mit geringen Investitionen realisieren zu können.

Mehr Wandlungsfähigkeit durch Automatisierung

Der Status quo in vielen Unternehmen lässt vermuten, dass Wandlungsfähigkeit und Automatisierung eher nicht direkt miteinander zusammenhängen.  Auch in der wissenschaftlichen Forschung liegt der Fokus noch immer primär darauf, methodische Ansätze zur Steigerung der Wandlungsfähigkeit zu entwickeln – und weniger auf technischen Lösungen. Wir sind allerdings überzeugt davon, dass die Automatisierungstechnik in der Praxis einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Wandlungsfähigkeit von Fabriken leisten kann. Die folgenden zwei fiktiven, aber praxisnahen Anwendungsfälle veranschaulichen dies:

Beispiel 1
Getrieben durch veränderte Kundenanforderungen hat ein Hersteller eine neue, innovative Produktgeneration entwickelt, die den Produktionsprozess erheblich verändert. Eine Layoutänderung ist daher unumgänglich. Früher kam ein schienengefrästes Transportsystem zur Materialbereitstellung zum Einsatz; im Falle einer Layoutänderung musste der Boden aufgefräst werden.
Die Firmeneigner und der COO haben allerdings frühzeitig auf Wandlungsfähigkeit und Flexibilität gesetzt. Daher haben sie das das Materialbereitstellungssystem bereits auf AGVs (automated guided vehicles) umgestellt. Diese machen sich selbstständig ein 3D-Abbild des neuen Hallenlayouts und finden so bei neuen Hindernissen alternative Routen. Zudem hat das Unternehmen seine bestehenden Fertigungsroboter durch neue, mobile Robotereinheiten ausgetauscht, die jederzeit innerhalb der Fabrik verschoben werden können.

Beispiel 2
Produkte mit einem hohen Individualisierungsgrad bringen das herkömmliche Fabriksystem eines Industrieunternehmens an seine Leistungsgrenzen. Gleichzeitig machen sie dem Management die Möglichkeiten wandlungsfähiger Fabriken deutlich. Um in ähnlicher Geschwindigkeit und Wirtschaftlichkeit zu produzieren wie in der herkömmlichen Serie, entscheidet das Unternehmen, eine crossfunktionale Organisation und agile Arbeitsweise der Fachkräfte zu etablieren. Innovative und automatisierte Unterstützung wie beispielsweise durch additive Fertigung und digitale Produktmodelle verkürzen Konstruktions- und Bearbeitungszeiten und erlauben eine schnelle Reaktion auf Kundenwünsche. Wandlungsfähige Produktionssysteme sind hierbei maßgeblich. 

Dies führt uns zur folgenden strategischen Hypothese:

Automatisierungslösungen und -produkte tragen in hohem Maße dazu bei, eine Produktionsumgebung zum Wandel zu befähigen. Sie unterstützen produzierende Unternehmen dabei, schnell, flexibel und mit geringeren Investitionen auf neue Entwicklungen reagieren zu können.

Die strategische Hypothese

Grundsätzlich lassen sich fünf Eigenschaften eines Produktionssystems definieren, die als sogenannte Wandlungsbefähiger gelten: Universalität, Skalierbarkeit, Mobilität, Modularität und Kompatibilität. Wir haben die Wandlungsbefähiger für die Automatisierungsindustrie konkretisiert und dabei die folgenden Implikationen abgeleitet:

  • Anforderungsgerechte Universalität: Egal, ob über eine automatische Systemanpassung, bei der zum Beispiel eine Echtzeitanpassung eines Robotergreifsystems auf ein bestimmtes Bauteil stattfindet, oder bei der Entwicklung einer temperaturresistenten Maschine, welche geographisch unabhängig genutzt werden kann: Universalität kann auf verschiedene Weisen gesteigert werden. Es gehen jedoch höhere Investitionskosten und längere Produktentwicklungszeiten damit einher. Folglich müssen Verantwortliche darauf achten, eine pragmatische Balance zwischen Universalität und der Forderung nach größtmöglicher Wirtschaftlichkeit zu gewährleisten.
  • Individualisiertes und optimiertes (Um-)Rüsten: Automatisierungstechniker können ihren Kunden einen Mehrwert bieten, indem sie die Rüstzeiten und -häufigkeit verringern. In diesem Zuge ist es wichtig, das Integrationsengineering, die Inbetriebnahme sowie die Hochlaufzeiten von Anlagen zu verkürzen. Auch Low-Code oder No-Code-Tools können dabei unterstützen, da dadurch selbst Mitarbeitende ohne Programmierkenntnisse problemlos Anpassungen machen können.
  • Ungetaktete Marktplatzfertigung und versetzbare Maschinen: Insbesondere getaktete Fließproduktionen können Volatilität schwer beherrschen. Die Umstellung des Produktionstyps auf das Marktplatzprinzip kann, wo sinnvoll, die Wandlungsfähigkeit erhöhen. Kommunikationstechnologien und fahrerlose Transportsysteme werden hierbei genutzt, um die Produkte flexibel zu den entsprechenden Arbeitsstationen zu transportieren. Zudem können omnidirektional fahrbare Roboter und Roboterplattformen sowie leicht versetzbare Maschinen die Wandlungsfähigkeit steigern.
  • Plug & Produce: Bestenfalls kann im Bedarfsfall der Arm eines modularen Industrieroboters unkompliziert durch einen neuen, den Anforderungen des Produktionsprozesses entsprechenden, ersetzt werden. Plug & Produce heißt demnach: ein Modul ohne aufwendige Umprogrammierung anschließen und die Funktionalität sofort nutzen. Zu beachten ist dabei, dass nicht nur eine interne, sondern auch eine externe herstellerübergreifende Kompatibilität sichergestellt werden sollte.
  • Einführung und Durchsetzung von Standards: Für Hersteller wird es zunehmend wichtiger, sich untereinander abzustimmen und entsprechende Industriestandards einzuführen, um nationalen bzw. regionalen Standards proaktiv entgegenzuwirken. Es ist vor allem relevant, dass sie Schnittstellen standardisieren, welche ebenfalls als funktionsfähige Einheit per Plug & Produce bereitgestellt werden können. Außerdem gewinnen die digitale Transparenz von Planungsunterlagen und Maschinendaten sowie die offene Automatisierungstechnik weiter an Bedeutung.

Um zu verstehen, für welche Kunden der Automatisierungsindustrie Wandlungsfähigkeit, Wandlungsbefähiger und deren Implikationen besonders relevant sind, können diese stark vereinfacht in drei Kundensegmente eingeteilt werden: Kunden mit Werkstatt-, Zentren- oder Fließproduktion.

Folgende Aspekte sind in diesem Zuge zu bedenken

  • Zum einen sollten, um die Volatilität bewältigen zu können, die Faktoren Prozesswiederholung und Variantenvielfalt zur Wahl des entsprechenden Produktionssystems führen.
  • Zum anderen haben Kunden in Abhängigkeit des Produktionssystems eine unterschiedlich starke Nachfrage nach wandlungsbefähigenden Produkten aus der Automatisierungsindustrie.

Kunden mit Werkstattproduktion – im Extremfall geprägt durch eine kundenindividuelle Auftragsfertigung – sind grundsätzlich flexibel bezüglich ihrer Ressourcen Die Zentrenproduktion bzw. das Marktplatzprinzip kann bei schwankenden Mengen und hoher Variantenvielfalt eingesetzt werden. Hierbei ist zudem eine ausgezeichnete Prozessqualität notwendig, um die Komplexität zu beherrschen. Die Fließproduktion fokussiert sich auf wenige, standardisierte Produkte mit sehr hoher Stückzahl, deren Produktionsprozesse bis ins letzte Detail optimiert werden können.

Welche Handlungen sollten Automatisierungstechniker aus dem Trend „wandlungsfähige Fabriken“ ableiten?

  • Absatzchancen bestehender Produkte nutzen und ausweiten: Bestehende und neue wandlungsbefähigende Eigenschaften des Produktportfolios auszubauen, liefert für Automatisierungsunternehmen zusätzliche Verkaufsargumente und ermöglicht es, verstärkt von der wachsenden Nachfrage nach flexiblen Produktionen zu profitieren. Der Vertrieb muss diese Eigenschaften gezielt adressieren, um den Absatz zu steigern.
  • Integration in die Produktentwicklung: Die Themenkomplexe Wandlungsfähigkeit und moderne Automatisierungstechnik sind integriert zu betrachten. Wandlungsbefähiger und deren Implikationen können als Ansatzpunkt in der Entwicklung neuer Produkte dienen.
  • Anpassung der eigenen Produktion: Auch die eigene Produktion sollte auf Wandlungsfähigkeit hin geprüft werden. Dies gilt vor allem für zukünftige Neuplanungen. Die eigentliche Herausforderung besteht jedoch darin, vorhandene Strukturen umzugestalten sowie vorhandene Anlagen und Betriebsmittel zu modernisieren.

Das Thema Wandlungsfähigkeit wird die Automatisierungstechnik über zwei Dimensionen hinweg langfristig begleiten: Als Optimierer auf Basis ihrer Produkte und als Produzent in den eigenen Fabriken. Gerade ersteres bietet enorme Chancen, den Umsatz zu steigern, neue Geschäftssegmente zu erschließen und dem Wettbewerb einen Schritt voraus zu sein. Denn eines ist in diesem Zusammenhang gewiss: Nichts bleibt, alles wandelt sich.

Kittelberger, D. / Heister, T. / Erdödy. S.