Interview mit Isabella Martorell Nassl, Versicherungskammer

Software mit einem Riecher für Ärger

Bei der Versicherungskammer erkennt die intelligente Software Watson, ob Kunden verärgert sind. Seit 2016 liest das IBM-System dafür Tausende von Schreiben pro Tag. Der Konzern setzt somit als einer der ersten deutschen Versicherer auf künstliche Intelligenz. Im Gespräch berichtet Isabella Martorell Nassl, Bereichsleiterin Betrieb bei der Versicherungskammer, wie das Unternehmen das kognitive System eingeführt und die Mitarbeiter davon überzeugt hat.

WARUM HAT SICH DIE VERSICHERUNGSKAMMER FÜR DEN EINSATZ VON KOGNITIVEN DIENSTEN ENTSCHIEDEN?

MARTORELL NASSL / Wie für jedes Versicherungsunternehmen ist es für uns zunächst einmal äußerst wichtig, unsere Daten sehr genau zu kennen. Je besser wir die Bedürfnisse unserer Kunden aus den Daten herauslesen, desto gezielter können wir auf die Kunden eingehen. Zudem ist die Versicherungskammer ein wachsendes Unternehmen mit einem stetig steigenden Beitragsvolumen. Folglich sind wir ständig auf der Suche nach Prozessoptimierungen. Um das zusätzliche Volumen effizient bewältigen zu können, müssen wir Abläufe automatisieren. So sind wir auf das kognitive System Watson gestoßen. Als wir uns intensiver mit der Technologie beschäftigt haben, dachten wir: „Das würden wir gerne auch bei uns ausprobieren!“

IN WELCHEN PROZESSEN SETZEN SIE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ EIN UND WELCHE VORTEILE ERZIELEN SIE DAMIT?

MARTORELL NASSL / Wir nutzen kognitive Systeme, um Unmut und Angebotswünsche unserer Kunden zu erkennen. Uns erreichen täglich etwa 20.000 Schreiben. Diese werden gescannt, digitalisiert und registriert. Im Anschluss prüfen wir mithilfe kognitiver Systeme, ob diese Dokumente eine Unmutsäußerung oder einen Angebotswunsch enthalten. Wenn ja, kennzeichnen wir sie explizit und leiten sie automatisiert an die zuständigen Mitarbeiter weiter. Auf diese Weise handeln wir gezielter, optimieren unseren Service und steigern so die Zufriedenheit unserer Kunden. Darüber hinaus schaffen kognitive Systeme Freiräume für unsere Sachbearbeiter, die dann mehr Zeit für individuelle Themen haben – ganz nach dem Motto: „Individualisierung im Zeitalter der Automatisierung“.

WIE HABEN SIE IHRE BESTEHENDEN PROZESSE AUF WATSON ANGEPASST?

MARTORELL NASSL / Da muss ich ein wenig ausholen. Um herauszufinden, ob Watson überhaupt so funktioniert, wie wir uns das vorstellen, haben wir bereits 2015 mit IBM und der Hochschule für angewandte Wissenschaften in München ein Pilotprojekt aufgesetzt. Es war so erfolgreich, dass wir dafür sogar als digitaler Vordenker in der Versicherungswirtschaft ausgezeichnet wurden. Also haben wir im März 2016 mit der Umsetzung begonnen und konnten nach einer neunmonatigen Vorbereitungszeit live gehen. Bei der Konfiguration des Systems lag ein spezieller Fokus darauf, dass es mit unseren bereits bestehenden Systemen kommunizieren kann. Außerdem haben wir die Folgeprozesse unter die Lupe genommen und diese relativ zügig mit eigenen Mitarbeitern angepasst und optimiert.

WIE HABEN SIE DAS SYSTEM AUF SEINE AUFGABEN VORBEREITET?

MARTORELL NASSL / Wissen Sie, wie ein kognitives System lernt? Wir vergleichen es immer mit einem dreijährigen Kind. Das kann schon die Basics, aber wir müssen es noch in die Schule und idealerweise irgendwann auch auf die Uni schicken. Wir haben den Lernprozess mit einigen Schreiben gestartet und Watson in einem Kreislauf beigebracht, diese zu lesen und zu verstehen. Dazu haben Sachbearbeiter zunächst etwa 1.000 Dokumente klassifiziert und in das System überführt. Danach wurde überprüft, was Watson erkennt, im Anschluss daran haben wir manuell nachjustiert. Am Ende des Projekts hatten wir das System mit rund 40.000 Dokumenten gefüttert – mit denen Watson weiterhin lernt. Im Moment befindet er sich sozusagen im Azubi-Stadium, aber wir sind schon kurz davor, ein Bachelor-Studium draufzusatteln.

WAS WAR DIE GRÖSSTE HERAUSFORDERUNG BEI DEM PROJEKT?

MARTORELL NASSL / Wie das immer so ist mit neuen Dingen: Sie müssen natürlich erst einmal die Menschen überzeugen. Dafür ist es unerlässlich, die Mitarbeiter sowie das Management von Anfang an mitzunehmen und Ängste abzubauen. Das war die größte Herausforderung, die wir letztlich mit offener Kommunikation und einer sehr transparenten Vorgehensweise gemeistert haben.

IN WELCHEN BEREICHEN SEHEN SIE KÜNFTIGE EINSATZMÖGLICHKEITEN FÜR KOGNITIVE SYSTEME?

MARTOTELL NASSL / Das ist eine schwierige Frage. Wir haben so gute Erfahrungen mit dem Thema gemacht, dass wir uns natürlich weiter damit beschäftigen werden. Im Moment denken wir über viele Anwendungsgebiete nach. Ich kann mir zum Beispiel sehr gut vorstellen, dass wir unser Wissensmanagement mit kognitiven Systemen verstärken werden. Das ist aber nur eine erste Überlegung. Wir befinden uns gerade in einer Startup- Phase, in der wir erst mal sammeln, bewerten und uns dann entscheiden.

WIE WIRD KÜNSTLICHE INTELLIGENZ DIE VERSICHERUNGSBRANCHE VERÄNDERN UND WAS KÖNNTE IHRER MEINUNG NACH DIE NÄCHSTE ENTWICKLUNGSSTUFE SEIN?

MARTORELL NASSL / Ich persönlich glaube, dass kognitive Systeme und künstliche Intelligenz überall da eingesetzt werden können, wo große Mengen an unstrukturierten Daten vorliegen, die einen hohen Lese- und Auswertungsaufwand beinhalten. Das kann zum Beispiel im Rahmen von Handlungsempfehlungen für Experten geschehen. Unterstützt durch künstliche Intelligenz wären Fachleute schneller und mit einer geringeren Einarbeitungszeit in der Lage, Empfehlungen zu geben. Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass uns das Thema Sprache künftig noch begegnen wird. Bei der Versicherungskammer beschäftigen wir uns bereits in Ansätzen damit, wie kognitive Fähigkeiten in die Sprache eingebaut werden können.

Mehr Informationen zur Versicherungskammer unter www.vkb.de.

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