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Pictures of the Future: Wie wir unvorhergesehene Krisen – wie Corona – vorhersehen können

Schon im Jahr 2015 mahnte Bill Gates in seinem Ted-Talk, dass wir nicht gewappnet seien gegen eine weltweit grassierende Pandemie und dass die Wahrscheinlichkeit eines Ausbruchs mit fortschreitender Globalisierung von Jahr zu Jahr signifikant ansteige. Noch früher, nämlich im Jahr 2013, hat das Robert Koch Institut eine ähnliche Einschätzung veröffentlicht. Dennoch sind die Gesellschaft und die Wirtschaft von Corona überrascht worden. Aber wieso?

Was die Corona- und Öl-Krise gemeinsam haben

Die Antwort ist, dass Menschen – aber auch Unternehmen – schlecht darin sind, sich vorzustellen, wie Worst-Case-Szenarien aussehen können und welche Faktoren sie hervorrufen. Noch schlechter sind wir aber darin, Eventualitäten ernst zu nehmen, die nur mit geringer Wahrscheinlichkeit eintreffen. Dabei kann sich genau das in Krisenzeiten auszahlen.

Nehmen wir das Beispiel Shell in den 1970er-Jahren. Aus der damaligen Position heraus erschien ein Ende des immerwährenden Ölstroms nicht vorstellbar. Prognosen waren lineare Verlängerungen von Zuwächsen. Anders Shell. Auf dem Höhepunkt des Ölbooms machte sich das Unternehmen tiefergehende Gedanken über die Zukunft und nutzte hierfür ein Tool, das Potenziale der Fantasie öffnet und so das Undenkbare denkbar macht: die Szenariotechnik. Streng methodisch eröffnen Szenarien Möglichkeiten, in viele verschiedene Zukünfte zu blicken – den Pictures of the Future – und daraus Maßnahmenpläne abzuleiten, die auf das Schlimmste, das Beste und das Wahrscheinlichste vorbereiten.

Die Szenariotechnik

Doch was bedeutet das ganz konkret? Zukunftsbewusste Unternehmen werden durch Szenariotechnik befähigt, schon heute zu verstehen, welche Veränderungen morgen einen Einfluss auf ihr Geschäftsmodell haben könnten.

Dies lässt sich erzielen, indem man die Zukunft strategisch adressiert: mit der konsequenten Analyse und Bewertung von Trends sowie der Entwicklung von Szenarien. Die Vorgehensweisen sind vielfach bewährt und lassen sich in unterschiedlichen Ausprägungen und mit verschiedenen Technologien umsetzen. Es geht dabei natürlich nicht um den Anspruch, die Zukunft selbst vorherzusagen, sondern sie unter Berücksichtigung von Alternativen für einen vorab definierten Zeitraum vorauszudenken. Dieser Zeitraum kann von wenigen Monaten bis 50 Jahre oder länger reichen. Hierbei ist es wichtig, das volle (zeitliche) Potenzial der Szenariotechnik zu nutzen, sei es die Schnellanalyse im akuten Krisenfall, die nur wenige Wochen in die Zukunft blickt – wie während eines Shutdowns durch eine Pandemie – oder die strategische Langzeitanalyse, die Jahrzehnte vorausdenkt und die Auswirkung sowie das Zusammenspiel von Megatrends antizipiert.

In der konkreten Umsetzung entstehen in 5 Schritten völlig verschiedene Zukunftsbilder für eine strukturelle und strategische Neuausrichtung:

1. Definition von Einflussfaktoren: Hierbei werden solchen Faktoren betrachtet, die entweder einen Einfluss auf die Branche oder das globale Umfeld des Unternehmens haben. Im Fall von Shell wäre ein solcher Globalfaktor vermutlich die „Geologie“ gewesen oder heute der Faktor „Gesundheit“. Beim Mauerfall 1989 war das der Systemzusammenbruch des „Staatssystems“ Sozialismus.

2. Identifikation von Schlüsselfaktoren: Solche Einflussfaktoren, die einen großen Einfluss auf andere haben und gleichzeitig selbst stark beeinflusst werden, dienen als Schlüsselfaktoren für die später entstehenden Szenarien. Die Anzahl der Faktoren wird damit wesentlich reduziert.

3. Gestaltung von Projektionen: Jeder dieser Schlüsselfaktoren wird in einem dritten Schritt in die Zukunft gedacht. Die Gesundheit könnte sich so ausprägen, dass (1) weltweite Gesundheitssysteme stabil genug sind, um Pandemien vorbeugen zu können, (2) starke regionale Unterschiede in der Bekämpfung auftreten, (3) globale Gesundheitssysteme versagen oder (4) eine Vorbeugung zwar nicht gewährleistet werden kann, doch die Versorgung im Krankheitsfall größtenteils sichergestellt ist.

4. Zusammensetzung von Szenarien: Die entwickelten Projektionen jedes Schlüsselfaktors werden nun zu stimmigen Szenarien zusammengefügt. So würde beispielsweise das globale Versagen von Gesundheitssystemen mit dem Faktor „Staat“ in der Ausprägung „Schwache Institutionen“ zusammenpassen.

5. Strategische Stoßrichtungen: Im letzten Schritt werden zum einen strategische Stoßrichtungen identifiziert, die zukunftsrobust für alle Szenarien Lösungen bieten, zum anderen aber auch Maßnahmenpläne für einzelne Szenarien entwickelt.

Wild Cards

Zu diesen Szenarien können auch sogenannte Wild Cards gehören. Diese klingen im ersten Moment so unwahrscheinlich, dass man sie am liebsten in der Schublade verschließen und nie wieder ansehen möchte – schließlich treten sie „sowieso nicht“ ein und machen nur zusätzliche Arbeit. Bekanntestes Beispiel der jüngeren Geschichte war der Mauerfall. Wild Cards sind Ereignisse, auf die sich niemand real vorbereitet (obwohl es meist Warnungen vorab gibt), die aber bei Eintritt gewaltige Umwälzungen auslösen – wie aktuell die Corona-Krise.

An dieser Stelle unterscheiden sich die Marktmeister von anderen Unternehmen. Sie durchdenken auch die unwahrscheinlichen Zukünfte und nutzen dazu die Szenariotechnik. Wer sich der Wild Cards annimmt und auch hier einen groben Action-Plan skizziert, ist im Krisenfall klar im Vorteil.

Das muss nicht spezifisch sein. Es kann vielmehr ausreichen, den Endzustand des Szenarios näher zu betrachten. Ein Shutdown, wie wir ihn aktuell erleben, kann durch viele Einflüsse hervorgerufen werden – ein Virus, ein staatlich angeordnetes Ausgehverbot aus Sorge vor Terrorismus oder eine Naturkatastrophe. Dass nun viele Einzelhändler und Großunternehmen digitale Vertriebs- und Kommunikationswege spontan und ungeregelt erschließen, hätte durch Szenarioanalysen strukturiert geschehen können – durch die aus Szenarien entspringende Vorbereitung entstehen Alternativpläne. So kann die Methodik auch in schlechten Zeiten ein gewisses Maß an Stabilität und Business Continuity durch die antizipierten Maßnahmen sicherstellen.

In der Krise heißt vor der Krise

Die heutige Situation zeigt, dass es auch zum jetzigen Zeitpunkt noch Sinn macht, sich mit kurz- bis mittelfristigen Szenarien auseinanderzusetzen. Die vollumfänglichen Konsequenzen der Corona-Krise lassen sich bislang noch nicht konkret benennen. Genau deswegen ist es notwendig, verschiedene Situationen durchzuspielen, die eintreffen können und sich mit der Erstellung konkreter Maßnahmenpläne zu beschäftigen. Schon heute hat sich die Wissenschaft mit verschiedensten volkswirtschaftlichen Szenarien auseinandergesetzt und Richtlinien für politische Entscheidungen vorbereitet.

Genau das ist es, was Unternehmen jetzt tun sollten, um sich möglichst schnell erholen zu können nach diesem noch nie dagewesenen Zustand, für den es per se keine Patentrezepte geben kann. Dabei heißt es, einen klaren Kopf zu bewahren und strukturiert vorzugehen, um nur solche Maßnahmen zu ergreifen, die das Unternehmen auch mittel- und langfristig stärken. Die Szenariotechnik beweist ihre Stärke dadurch, dass sie sowohl kurzfristige Lösungen anbietet als auch immer wieder die Perspektive in die weite Zukunft aufmacht.

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