Horváth Innovation Insights

Agilität – Wieso das Bärtierchen unser Vorbild werden sollte

Ähnlich wie „SCRUM“, „Design Thinking“ und „Holacracy“ ist auch „agile Organisation“ immer mehr zum Buzzword verkommen. Doch schnell wandelnde Marktanforderungen und die Chancen, die Agilität bietet, machen den Begriff nicht überflüssig – er sollte vielmehr mit Wissen und Best Practices angereichert werden.

Was Bärtierchen und Agilität gemeinsam haben

Dass Agilität häufig falsch verstanden oder als Buzzword abgetan wird, liegt eher an unzureichender Umsetzung als an den Prinzipien, die der Begriff verkörpert.

Ein oft verwendetes Bild vergleicht „agil“ mit der Beweglichkeit, Geschwindigkeit und Grazilität eines Gepards. Dabei liegt die Erfolgsquote des Jägers konstant bei nur 40%. Das deutet darauf hin, dass er seine Technik keineswegs flexibel an die Schwächen seiner Beute anpasst und kein Lerneffekt stattfindet. Schnelligkeit und Wendigkeit allein reichen also nicht aus, um sein inhärentes Potenzial auszunutzen.

Ein Lebewesen, das hingegen Agilität besser als jedes andere verkörpert, ist gerade einmal einen Millimeter groß: das Bärtierchen. Es lebt in den Bergen des Himalaya-Gebirges ebenso wie in der Tiefsee. Als einziges Tier kann es sogar im Vakuum überleben. Sich so agil seinen Lebensumständen anpassen zu können, verdankt es seiner Fähigkeit, sein eigenes Erbgut reparieren und die DNA fremder Lebensformen integrieren zu können. Unternehmen, die „agil“ der Dynamik der Märkte standhalten wollen, sollten somit nicht blind auf Geschwindigkeit setzen, sondern sich intelligent den Gegebenheiten ihres Umfelds anpassen und vom Beispiel anderer Marktakteure lernen. Agilität steckt also im Kleinen, in Projekten oder Produktentwicklungen, doch sie findet auch Anwendung in größeren Dimensionen. Agile Organisationen stellen ihre gesamte Struktur darauf um, nach der Prämisse der Flexibilität und Teamorientierung zu leben.

Wie die ersten agilen Organisationen entstanden

Die Geschichte des Begründers einer der berühmtesten agilen Organisationsformen, Brian Robertson, hilft dabei zu verstehen, worin die Vorteile dieser Strukturen liegen. Robertson war Gründer eines Softwareunternehmens, als er in seiner Freizeit ein Aha-Erlebnis hatte: Zum Abschluss seines Flugscheins absolvierte er seinen ersten Solo-Flug. Währenddessen leuchtete plötzlich eine Warnleuchte, deren Bedeutung er nicht kannte. Doch da alle anderen Instrumente wie der Höhenmesser und die Tankanzeige keine Veränderung aufwiesen, flog er weiter – mit der Folge, dass er fast abgestürzt wäre. Dies brachte ihn zur Erkenntnis, dass wir uns viel zu selten mit den kleinen Warnleuchten in unserem Leben beschäftigen. Insbesondere Unternehmen überhören häufig die wichtigsten Sensoren ihres Geschäfts: ihre Mitarbeiter. Kombiniert mit seinem Wissen als Softwareentwickler war eine neue Geschäftsidee geboren. Robertson entwickelte ein „Betriebssystem“ für Unternehmen, die auf die Selbstorganisation ihrer Mitarbeiter setzen und somit den internen Warnleuchten Gehör verschaffen möchten. Er nennt es „Holacracy“.

Prinzipien agiler Organisationen

Tatsächlich ist Brian Robertson nicht der erste, der genau auf diese Idee gekommen ist. Frederic Laloux schaffte es beispielsweise mit seinem Buch „Reinventing Organizations“ auf die Bestseller-Liste, was beweist, dass der Markt offen und bereit ist für die neue Art, Organisationen aufzustellen. Neben „Holacracy“ entsteht so die „Teal Organization“ und löst eine ganze Bewegung agiler Organisationsformen aus. Was alle gemeinsam haben, sind sechs Kernprinzipien.

Die sechs Prinzipien agiler Organisationen

Teams vor Hierarchien: Traditionelle Linienorganisationen sind als Pyramide „von oben nach unten“ organisiert und die Führungshierarchie steht im Vordergrund. Agile Organisationen sind hingegen in Teams und Kreisen organisiert – es gibt kein „oben“ oder „unten“. Entscheidungen werden da getroffen, wo sie anfallen und auch dort verantwortet. Hierarchien haben hier keinen Platz mehr.

Selbstorganisiert vor fremdgesteuert: In klassisch strukturierten Unternehmen werden Regeln, Verfahren und Abläufe zentral vorgegeben. „Von oben“ werden Anweisungen und Freigaben an untere Hierarchieebenen weitergegeben. Agile Strukturen fördern die Selbstorganisation – jeder Mitarbeiter übernimmt die Verantwortung für sein Handeln und entscheidet in seinem vom Team gesetzten umfassenden Handlungsspielraum. Urlaubsfreigaben oder Unterschriftenrichtlinien sucht man vergebens. Jegliche Form der Fremdbestimmung wird weitestgehend vermieden.

Gemeinsam vor hierarchisch: Hierarchische Organisationen sind so strukturiert, dass Ziele und Entscheidungen von Führungskräften festgelegt werden und diese im Wasserfallprinzip an die „einfachen Mitarbeiter“ herunterprasseln, die nur noch ausführen. Eine Führungskraft würde sagen: „Wir müssen den Fluss überqueren. Ihr baut jetzt eine Brücke“. In agilen Organisationen würde dagegen das Team oder einzelne Mitglieder erkennen, dass es notwendig ist, den Fluss zu überqueren und zusammen mit den Kollegen eine Lösung finden. Diese könnte aber auch viel grundsätzlicher ausfallen: Wer sagt, dass eine Brücke die beste Lösung ist? Vielleicht spart es Zeit und ist zweckdienlicher, ein einfaches Floß zu bauen. Führung fokussiert sich somit auf das, was erreicht werden soll, anstatt bereits das „Wie“ vorzugeben. Es herrscht außerdem das Prinzip der „verteilten Führung“. Das bedeutet, dass die ehemaligen Aufgaben einer Führungskraft in viele Rollen geteilt und dann an das Team weitergegeben werden. So können Teammitglieder z.B. die Rolle der Ressourcenplanung, Moderation, Repräsentation oder Personalentwicklung übernehmen. Das stärkt die persönliche Entwicklung und entlastet die koordinierende Rolle.

Rollen vor Stellenbeschreibungen: Titel sucht man vergeblich auf den Visitenkarten agil organisierter Unternehmen. Es gibt keinen „Head of“ oder „Abteilungsleiter“ mehr. Stattdessen werden Rollen entwickelt, die zu den anfallenden Aufgaben in Teams passen – völlig unabhängig von den Personen, die diese Rolle später ausfüllen werden. Rollenbeschreibungen umfassen den Zweck, den die Rolle erfüllt, die Verantwortungen, die sie übernimmt, die sozialen und fachlichen Kompetenzen, die als Voraussetzung dienen und die Domänen, die Hoheitsgebiete der Rolle. Rollen können jederzeit im Rahmen spezifischer Meetings im Team gemeinsam angepasst, neu gebildet oder verworfen werden, um flexibel auf Umweltanforderungen reagieren zu können.

Konsent vor Konsens: Nein, es handelt sich nicht um einen Schreibfehler. Der KonsenT ist eine spezifische Form der Entscheidungsfindung agiler Organisationen. Anstatt wie im Konsens zu fragen, ob alle dafür sind, wird gefragt, ob es schwerwiegende Einwände dagegen gibt. Wie ein schwerwiegender Einwand formuliert ist, ist dabei genau vorgeschrieben, sodass Entscheidungsfindungsprozesse beschleunigt werden. Faule Kompromisse werden so vermieden. Ziel ist, dass jede Rolle in ihrem Verantwortungsgebiet frei entscheiden kann und nicht erst übergeordnete Institutionen um Erlaubnis bitten muss. Dies verlangsamt Prozesse unnötig.

Dynamik vor Statik: Im Kern von agil aufgestellten Unternehmen steht die schnelle Anpassungsmöglichkeit an die Anforderungen des Marktes. Diese Organisationen verlassen die Sicherheit ihrer Komfortzone, um nachhaltig wettbewerbsfähig zu bleiben. Grundsätzlich gilt „safe enough to try“. Agile Organisationen streben nicht nach Perfektion, sondern lassen Fehler zu, sodass der Kunde schnell Resultate sieht und Themen einfach ausprobiert werden können. Hierzu gehört auch der Berühmte „MVP“-Gedanke (Minimum Viable Product) – möglichst schnell ein erstes Produkt mit den Minimalanforderungen herauszubringen, das dem Kunden einen ersten Mehrwert bringt.

Diese Prinzipien sollen dafür sorgen, dass Mitarbeiter – die Warnleuchten und Generatoren jeder Organisation – mehr Verantwortung erhalten und selbstorganisiert handeln können. Gleichzeitig ermöglichen sie Unternehmen, sich schrittweise dem Prinzip des Bärtierchens anzupassen, denn genau so entwickeln sich Teams selbstständig und lernen voneinander – und das schneller als alle anderen.

Wir machen Sie zum Bärtierchen

Horváth & Partners begleitet eine Vielzahl von Unternehmen hinsichtlich dieser Transformation und verfügt damit über die Expertise, die Fähigkeiten des Bärtierchens an Sie weiterzugeben. So können Sie nicht nur schnell auf Umwelteinflüsse reagieren, sondern schaffen in Ihrem Unternehmen eine Kultur, die auf Selbstorganisation, Eigenverantwortung und Vertrauen basiert. Diese Kultur und Flexibilität ist die Basis für einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil und Resilienz in sich ständig verändernden Märkten.